Der Berner, der Kaviar in die Luft jagte

Posted by on Jan 23, 2014 in Presseberichte

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Berner Zeitung, 22.1.2014 / Tages Anzeiger, 23.1.2014
Von Helen Lagger –

Emotional und aufwühlend: Der Film «Der Gegenwart» von Bernhard Nick und Stephan Ribi ist ein buntes Künstlerporträt über den einstigen Bürgerschreck Carlo E. Lischetti.

«Am Anfang sind es immer nur wenige, die anfangen.» So lautet ein Bonmot des Aktionskünstlers und Wortakrobaten Carlo E. Lischetti (1946–2005). Er selbst konnte nichts mehr mit sich anfangen, als seine Frau an Krebs gestorben war. Zwei Jahre nach ihrem Tod erschoss sich der Untröstliche in seinem Atelier. Nun begibt sich ein Dokumentarfilm auf Spurensuche. Die Regisseure Bernhard Nick («Zwischentöne») und Stephan Ribi lassen in «Der Gegenwart» Leben und Werk von Lischetti Revue passieren. Der Filmtitel spielt auf eine für den Tüftler typische Wortschöpfung an. Als Konkurrenz zum Hauswart, zum Schulwart oder Torwart erfand er den «Gegenwart». Ein Mensch im Hier und Jetzt – das war Lischetti zweifelsohne. Spontan entstanden seine Werke. So auch der stadtbekannte «Balancierende Bär». «Da muss ein Bär rauf», soll Lischetti aus einer Laune heraus gesagt haben. Und pünktlich zur Fasnacht montierte er das heute beim Bärenpark schwebende Tier am Bahnhofplatz.

Das im Film integrierte Archivmaterial dokumentiert Aktionen, die noch heute Sprengkraft haben. So lässt Lischetti einmal vor laufender Kamera ein Häufchen Kaviar explodieren oder ruft – den Kopf immer wieder in einen Blecheimer steckend – die Worte «Wie man in den Kessel reinruft, so schallt es hinaus». Ein für Lischetti typischer Unsinn, bei dem Weltschmerz mitschwingt. Doppelbödig sind auch die Objekte, die er für die von ihm gegründete Gruppe der Gegenwartskunstempfänger (GWä) schuf. Pünktlich zum Filmstart präsentiert die Stadtgalerie im Progr die insgesamt 27 «Sendungen», die er an Freunde verschickte. Lischetti liebte Wortwörtliches: So besteht etwa sein «Akt in Öl» aus einer mit Öl gefüllten Flasche, in der eine Zeichnung mit einer nackten Frau schwimmt.

Toben über den Tod

Nicks und Ribis Film erzählt nicht nur von Lischettis Kunst, sondern rollt auch die Familiengeschichte des einstigen Bürgerschrecks auf. Die Kinder Nora und Dario Lischetti halten Rückschau. Gleich zu Beginn erzählt die Tochter, wie es war, als die Polizei bei ihr anklopfte und sie über den Freitod des Vaters informierte. Geschockt, aber nicht überrascht sei sie gewesen. Eine längere Phase, geprägt von tiefer Trauer und Paranoia, war dem Suizid vorausgegangen. Auch Weggefährte Polo Hofer erinnert sich, dass Lischetti regelrecht getobt habe über den Tod seiner Frau. Zusammen mit Hofer, Margrit Probst und Pier Hänni hatte der bekennende Anarchist 1971 die Partei «Härdlütli» gegründet. Die vier posierten splitternackt für ihr Wahlplakat und ergatterten tatsächlich einen Sitz im Berner Stadtrat. Im «Gegenwart» kommen die Freunde wieder zusammen und erinnern sich an gute alte Zeiten der Unruhe.