Nulosevose und eine grossartige Ambivalenz

Posted by on Apr 16, 2014 in Presseberichte

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Bieler Tagblatt, 4.4.2014
Von Tom Wyss (Text) und Peter Gerber (Foto) –

In den nächsten vier Wochen sind im Filmpodium Werke zu sehen, die bislang noch nicht in Biel gelaufen sind. Zwei der Filme seien dem Publikum besonders ans Herz gelegt.

Er hat einen Frauenfurz in einem Haufen Kaviar gezündet. Er hat an den Ortstafeln von Bern den Zusatz «Betriebsferien» angebracht und die Aktion «Bern ist ein müder Furz» getauft. Er hat sich auf einer Wiese mit einem Beil auf ein Stück Tuch gesetzt und proklamiert: «Auf liegendem Teppich mit gutem Beilstiel voran». Und zum 181. Geburtstag von Gottfried Keller hat er Papierteller verschickt mit der Aufschrift: Teufel Krieg Estrich.

Carlo E. Lischetti war ein wortwörtlicher Mensch. Polo Hofer, ein Freund von ihm, nannte ihn «einen Umweltkünstler, einen Happening-Macher, einen Beizenfritz, einen Handörgeler, einen Trommler, einen Weisheitenverbreiter».

Lischetti hat Alltagsobjekte durch kleine Verrückungen in komplett andere Objekte verwandelt. Er hat gemalt, gedichtet, getanzt, er hat politisiert, polarisiert, performt. Ein anderer Freund sagte, es sei ein hoher Luxus zu meinen, man könne als Anarchist Familienvater sein.

2005, zwei Jahre nach dem Krebstod seiner Frau, hat Lischetti sich 59-jährig in seinem Atelier erschossen. Die Lücke, die Barbara hinterlassen hatte, hat ihn zerrissen und zerstört. Er hat getobt, geweint, gelitten. Gestorben ist er an Nulosevose, wie seine Angehörigen damals mitteilten. An nutzloser Selbstvorwurfsseuche.

Viele Emotionen

Bernhard Nick und Stephan Ribi haben für ihren Dokumentarfilm «Der Gegenwart» einen stimmigen Zugang zum Leben Lischettis gefunden.

Gemeinsam mit Nora und Dario, seinen beiden Kindern, treffen sie Weggefährten des Künstlers und fragen nach der Bedeutung seines Wirkens. Und sie lassen – was nicht alltäglich ist bei Dokumentarfilmen – Aktionen Lischettis nachstellen.

In «Der Gegenwart» wird viel an Tischen gesessen und gelacht, es wird geschwiegen und geraucht. Vor allem wird erzählt. Die Emotionen gehen immer wieder hoch. Dazwischen kommt der Künstler selber zu Wort. Viele seiner Arbeiten hat Lischetti mit der Videokamera dokumentiert.

Fasziniert und manchmal auch ratlos folgt man den beiden Filmemachern in das Reich des Verstörers, des Unruhestifters, des Sprachakrobaten, in die Gedankenwelt dieses expressiven wie einsamen Menschen, der im Alltäglichen, im Banalen das Grossartige, Unglaubliche erkannte.

Man erfährt, wie es zur Gruppe der Gegenwartskunstempfänger kam, was ein Akt in Öl tatsächlich ist und was es mit dem Filmtitel auf sich hat.

Vieles bleibt aber auch ungesagt, unbeantwortet, unkommentiert – und das ist gut so. Gerade im Fragmentarischen scheint man dem Künstler am nächsten.

Einige Fragen

Auch Sarah Polley widmet sich – wie Nick und Ribi – der Familie. Ihrer eigenen. Ihr «Stories We Tell» ist ein Hybrid. Etwas zwischen Dokumentation und Fiktion. Polley, eine der talentiertesten Regisseurinnen («Away from Her») und spannendsten Schauspielerinnen («My Life Without Me», «The Secret Life of Words») der Gegenwart, hat einen faszinierenden Film gedreht.

Einer, der seine Karten nicht aufdeckt, einer, der sich aus einer intelligenten Ambivalenz nährt und einer, über den man im Vorfeld am besten gar nicht viel weiss. Einige Fragen reichen: Wie funktioniert eine Familie? Was hält sie zusammen? Wie geht sie mit Geheimnissen um? Aber auch: Wie konstruieren wir unsere Wahrheit? Wie erinnern wir uns? Wie erzählen wir Geschichten?

Alles ist drin in diesem beeindruckenden, berührenden, intimen und zärtlichen Werk. Das Leben, der Tod, die Freude, das Leid. «Stories We Tell» wird in jeder Zuschauerin, in jedem Zuschauer eine Geschichte auslösen. Eine eigene Version der Realität.

Das Programm

Die beiden im Haupttext erwähnten Werke sind am 8. und 15. April um 20.30 Uhr («Der Gegenwart») und zwischen dem 18. und 21. April («Stories We Tell») zu sehen. Am 8. April werden die beiden Regisseure des Schweizer Films, Bernhard Nick und Stefan Ribi, um 20.30 Uhr im Filmpodium zu Gast sein.

Nach dem Festival du film vert (siehe Infobox rechts) gehört das nächste Wochenende (4. bis 6. April) dem Schweizer Gebirge. «Berge im Kopf» porträtiert vier Bergführer und fragt sie nach ihren Grenzen, ihren Ängsten und ihrem Platz im Tal. In «Zum Säntis – unterwegs mit Franz Hohler» ist der Titel Programm. Tobias Wyss begleitet den Schriftsteller und Kabarettisten auf seiner Wanderung in die Ostschweiz.

Eine Woche später (11. bis 14. April) wird Musik gemacht. «Elektro Moskva» ermöglicht dem Publikum einen aufschlussreichen Blick auf die Elektromusik in der Sowjetunion zwischen den 60erund 80er-Jahren.

Den Abschluss des Zyklus machen «Ma mère s’appelle Forêt» (22. April) und «The Amazing Catfish» (25. bis 28. April). Im ersten geht Rachel Noël auf Spurensuche in ihrer Familie. Ihr Werk passt damit perfekt zu «Der Gegenwart» und «Stories We Tell». Im Film von Claudia Sainte-Luce lernt die Supermarktangestellte Claudia im Spital Martha kennen. Als sich deren Gesundheitszustand verschlechtert, wird Claudia mit einer existenziellen Frage konfrontiert: Soll sie die Ersatzmutter von Marthas Kinder werden?

Beginnen tut der Zyklus heute um 20.30 Uhr mit «Die Reise zum sichersten Ort der Erde»: Wo sollen wir hin mit unserem Atommüll? Edgar Hagens Dokumentation ist der einzige Film, der bereits in den Bieler Kinos zu sehen war.

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